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Vom Aufstieg aus einer Hartz-IV-Familie

Meine Erfahrungen

Als Arbeiterkind habe ich mich lange mit dem Thema beschäftigt (und mache es immer noch), wie sich mein Leben durch meinen akademischen Abschluss verändert hat.
Meine Mutter, eine Arzthelferin, und mein Papa, ein Flugzeugmechaniker, haben meiner Schwester und mir eine Bildungslaufbahn ermöglicht, die ihnen damals durch die finanziellen Umstände ihrer Eltern verwehrt geblieben ist. Allerdings mussten sie dafür "tief in die Tasche greifen" und Abstriche in ihrem Leben machen.
So waren meine Schwester und ich die ersten Personen aus unserer Familie, die das Abitur und einen akademischen Abschluss erworben haben. Neben dem Stolz darauf es geschafft zu haben, war ich (und auch meine Schwester) hin und wieder mit Situationen konfrontiert, die mich überfordert und eingeschüchtert haben. Wenn man zuvor keinen Zugang zur Welt der bildungsnahen Schicht hatte, kommt man sich manchmal in akademischen Kreisen wie ein Außerirdischer vor. Daher wurde mir schnell klar, dass ein Eintauchen in diese Welt, nicht nur Lernen für den Abschluss, sondern vor allem Lernen fürs Leben bedeutet. Denn wer sich nicht bei Bier und Wein in der Studentenkneipe als Arbeiterkind outen will, muss sich in nächtlichen Überstunden kulturelles Wissen anhäufen (in der Zeit bin ich ein großer Hermann Hesse Fan geworden), das den meisten meiner Kommiliton*innen auf natürliche Weise von ihren Elternhäusern mitgegeben wurde. Die Soziologen sprechen in diesem Zusammenhang vom "kulturellen Kapital".
Zu dem oben genannten Thema wurden bereits viele Bücher und Studien verfasst. Diese konnten mit statistischer Klarheit die Chancenungleichheit zwischen Kindern aus bildungsfernen und bildungsnahen Familien aufzeigen sowie einen Einblick in die Gefühlswelt von Bildungsaufsteiger*innen geben.
Bei meiner Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist mir aufgefallen, dass sich vergleichsweise wenig mit einer anderen Gruppe der Aufsteiger beschäftigt wird, nämlich die, die in Familien aufwachsen, in denen beide Elternteile arbeitslos sind.
Kinder aus sogenannten Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften haben im Vergleich zu Kindern aus dem Arbeitermilieu mit noch größeren Herausforderungen zu kämpfen.

Kinder aus sogenannten Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften haben im Vergleich zu Kindern aus dem Arbeitermilieu mit noch größeren Herausforderungen zu kämpfen.

Ihnen kommen die Tugenden der Arbeiterschicht - Pünktlichkeit, Ausdauer, Standhaftigkeit, Solidarität - oftmals nicht zu Gute, da ihnen diese von ihren Eltern und dem Milieu, in dem sie aufwachsen, nicht vorgelebt werden. Umso bemerkenswerter ist es, wenn diese Kinder den Weg aus ihrer prekären Lebenssituation finden, indem sie eine Ausbildung beginnen bzw. einen Beruf ausüben.
Ich möchte in diesem Artikel ein paar Gedanken und Überlegungen in den diskussionsoffenen Raum werfen, die sich mit dieser Aufsteiger-Gruppe beschäftigen.

Beschreibung der Personengruppe

Als Lehrer an einem Sonderpädagogischen Förderzentrum (SFZ) in einem der wenigen Münchner Brennpunktviertel erhalte ich Einblicke in Lebensumstände von Familien, die mir zuvor nur aus Skripted-Reality-Sendungen von diversen TV-Kanälen bekannt waren.
Es gibt sie also wirklich: Vom Schicksal gebeutelte Familien, die in einer viel zu kleinen Plattenbauwohnung mit mehreren Kindern leben, in denen nur ein oder gar kein Elternteil einen Job hat und in denen, sofern ein Migrationshintergrund vorliegt, erhebliche Sprachdefizite bestehen.
Eine Erhebung des Statistik-Portals statista vom Dezember 2017 konnte aufzeigen, dass der Anteil der Kinder unter 18 Jahren, der in Bedarfsgemeinschaften mit SGB-II-Bezug lebt, deutschlandweit bei 14,2% liegt.

Eine Erhebung des Statistik-Portals statista vom Dezember 2017 konnte aufzeigen, dass der Anteil der Kinder unter 18 Jahren, der in Bedarfsgemeinschaften mit SGB-II-Bezug lebt, deutschlandweit bei 14,2% liegt.

Schaut man sich die Ergebnisse nach den einzelnen Bundesländern an, schneidet Bayern mit 6,6% am besten ab. Das Schlusslicht bildet Bremen mit 31,2%, dicht gefolgt von Berlin mit 29,1%. Der Anteil der anderen Bundesländer bewegt sich mehrheitlich zwischen 13-18% (Statistik 2017 Kinder aus Hartz-IV-Familien).
Die Zahlen verdeutlichen einerseits die gravierenden Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern (in Berlin und Bremen lebte 2017 jedes dritte Kind in einer Bedarfsgemeinschaft). Andererseits zeigen sie auch auf, dass diese Personengruppe bundesweit vertreten ist und sich daher jedes Bundesland zur Aufgabe machen muss, diese besonders vor Arbeitslosigkeit gefährdeten Kinder und Jugendlichen zu unterstützen. Diese Unterstützung muss neben entsprechenden Initiativen und Organisationen vor allem auch durch die Schule geleistet werden.
(An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass sich der in den letzten Jahren verzeichnende drastische Anstieg von Kindern mit Hartz-IV-Bezug überwiegend durch Kinder von Geflüchteten zustande kommt. Die Politik darf vor dieser Realität nicht die Augen versperren und muss insbesondere Familien mit Fluchterfahrung durch Integrationsprogramme helfen, damit diese schnellstmöglich in Deutschland wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen können.)

Aufgabe der Schule

Gerade sogenannte Brennpunktschulen müssen sich der oben genannten Personengruppe annehmen und mithilfe von schulinternen Konzepten Maßnahmen anbieten, die den Kindern und Jugendlichen aus Hartz-IV-Familien berufliche Perspektiven und Orientierung im Alltag aufzeigen. Solche Konzepte sollten folgende Ziele zum Inhalt haben:

  • Interdisziplinärer Austausch: Die Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften und Schulsozialarbeiter*innen sowie externen Fachkräften wird eine Schlüsselaufgabe einnehmen, um den Kindern und Jugendlichen einen positive Blick in Richtung Zukunft zu ermöglichen. Nur ein ganzheitlicher Ansatz kann die Vielzahl an Faktoren aufdecken, die einen negativen Einfluss auf die Flucht aus einem Hartz-IV-Leben haben.
  • Zusammenarbeit mit der Familie: Der enge Austausch mit der Familie wird letztlich der Hauptfaktor für einen erfolgreichen Berufsweg der Schülerin bzw. des Schülers sein. Es gilt die Familie dafür zu sensibilisieren, dass ihr Kind das Potential hat eine Ausbildung zu machen und einen Job zu erhalten. Des Weiteren müssen die Eltern überzeugt werden, dass ihre missliche Lage nicht zu der ihres Kindes werden muss.
  • Themenspezifische Projekte/Initiativen: Gerade an Schulen, in denen die Mehrzahl der Schüler*innen aus bildungsfernen und einkommensschwachen Familien stammen, muss durch regelmäßige Projekttage und Initiativen ein positives Gemeinschaftsgefühl geweckt werden, das den Schüler*innen Hoffnung und Zuversicht gibt, etwas aus ihrem Leben machen zu können. Solche Projekte können z.B. Interviews mit früheren Schulabsolvent*innen, die eine erfolgreiche Ausbildung gemacht und nun einen Job haben, oder der Besuch von nahegelegenen Ausbildungsbetrieben bedeuten.
  • Unterrichtliche Auseinandersetzung: Auch im Unterricht sollte das Thema in den dafür geeigneten Fächern Beachtung finden. Hier haben die Schüler*innen die Möglichkeit mit ihrer Lehrkraft in einem relativ geschützten Raum sich über ihre Erfahrungen auszutauschen. Des Weiteren können sie durch Literatur und Studien erkennen, dass es sich um ein Problem handelt, von dem auch andere Personen betroffen sind und das von der Gesellschaft wahrgenommen wird.
  • Networking mit Ausbildungsbetrieben: Dieser Punkt ist nicht zu unterschätzen. Gerade die enge Zusammenarbeit der Schule mit Ausbildungsbetrieben vor Ort, erhöht die Chance der Jugendlichen einen Beruf zu erlernen und im Anschluss eine Arbeitsstelle zu finden.

Ausbrechen aus dem gewohnten Milieu - Ein innerer Konflikt

Neben den oben genannten schulischen und außerschulischen Maßnahmen zur Unterstützung von Kindern aus Hartz-IV-Familien, darf die psychische Ebene nicht außer Acht gelassen werden. In bekannten Büchern über den Aufstieg aus der Arbeiterschicht in die soziale Elite, wie z.B. Rückkehr nach Reims von Didier Eribon oder Hillbilly Elegy von J. D. Vance, betonen die Autoren die psychischen Herausforderungen, die ihnen auf ihrem Aufstiegsweg begegnet sind. Darunter fallen z.B. die Entfremdung aus dem Ursprungsmilieu, die Verschleierung der eignen Herkunft, der Verlust von Kinderfreundschaften und z.B. auch die radikale Abwendung vom Elternhaus bzw. Teilen der Familie. In vielen Fällen mussten die Personen solch einen radikalen Wandel ihrer Persönlichkeit und Lebensumstände vollziehen, um überhaupt aus ihrer misslichen Lage entfliehen zu können.
Auch Kinder aus Hartz-IV-Familien werden mit diesem inneren Konflikt konfrontiert sein. Sie werden sich in einer bestimmten Lebensphase bewusst von ihrer Peergroup entfernen müssen, um negativen Einflüssen zu entgehen. Sie werden sich von Einstellungen und Meinungen ihres Elternhauses distanzieren müssen, um optimistisch, motiviert, selbstbewusst und weltoffen ihr Potential entfalten zu können. Und sie werden sich auch irgendwann die Frage stellen müssen, wie sie ihren sozialen Aufstieg und dem damit verbundenen neuen Habitus in Einklang mit ihrer Sozialisation bringen können, ohne dass sie ihre Herkunft und damit ihre Familie verleugnen.
Es wird somit neben einer theoretischen Auseinandersetzung mit den durch sozialem Aufstieg sich verändernden Lebensumständen, insbesondere die psychologische Betreuung der Kinder erforderlich sein. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Betroffenen ihren inneren Konflikt unbeschadet austragen können.

Alexander Sali
Über den Autor Alexander Sali Alex ist Mitgründer von Freigeist und Förderschullehrer mit großer Leidenschaft für digitale Medien. Seit Sommer 2023 ist er Schulleiter der Franziskus-Schule in Starnberg. Von Sept. 2018 bis Aug. 2020 arbeitete er an der Regierung von Oberbayern und war dort für die Koordination der digitalen Bildung an Förderschulen zuständig.
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